Spiritualität - Landkarten des Geistigen
Unter Spiritualität wird zumeist das "Geistige" bzw. das auf-das-"Geistige"-Bezogen-Sein verstanden. Was dieses Geistige ist, darüber wiederum gibt es zahlreiche Auffassungen und Interpretationen, bis hin zu komplexen Modellen darüber, wie man sie z.B. in Gestalt der "Integralen Spiritualität" des Philosophen Ken Wilber oder den "Spiral Dynamics" von D.E. Beck findet. Diese Autoren postulieren ihrerseits die Gültigkeit ihrer geistigen Landkarten, die wiederum obligatorische Abstufungen und Enwicklungsgradienten enthalten, von denen Weisheitslehrer früherer Zeiten nichts wissen konnten, weil sie es seinerzeit versäumt hatten, sich mit postmodernen Erkenntnistherorien vertraut zu machen.
Andere wiederum sehen in der ein oder anderen spirituellen Praxis vor allem eine Vermeidung der Begegnung mit dem tiefsten Schmerz, der "dunklen Nacht der Seele" und mehr ein Surrogat für die Fülle, auf die sie abzielt ("spirituelles Bypassing", zu finden z.B. bei Mike Hellwig).
Bei alledem scheint dieses Geistige nicht in den Konzepten darüber auffindbar zu sein. Die Bewusstheit bzw. das Gewahrsein des Geistigen entzieht sich dem Denken und den Konzepten.
Gegenstand der Betrachtung
Entgegen den materialistischen, natur- oder auch geisteswissenschaftlichen Betrachtungsweisen (mit Ausnahme vielleicht bestimmter Konzepte der Grundlagenphysik, die an den Grundpfeilern des wissenschaftlich erklärbaren Universums rütteln), sowie vor allem auch entgegen der Betrachtungsweise des oft bemühten gesunden Menschenverstandes, auf der unsere Gewissheiten und ebenso unser brüchiges Gesellschaftsgefüge beruhen, und die allesamt ein urteilendes Selbst voraussetzen, welches sich ein gültiges Bild vom Gegenstand seiner Betrachtung zu machen vermag, ist im Reich des Geistigen just dieses Selbst ein untrennbarer Teil des betrachteten Gegenstandes.
Als wissenschaftliche Analogie hierzu könnte z.B. die bekannte Heisenberg'sche Unschärferelation dienen, die feststellt, dass sich der tatsächliche Seinszustand eines Elektrons niemals erfahren lässt, weil die Betrachtung (mithilfe eines Elektronenmikroskops) diesen Seinszustand durch die Betrachtung selbst verändert. In ähnlicher Weise verändern wir die Erfahrung des Geistes z.B. durch Samadhi (meditative Konzentration).
Spiritualität befasst sich unweigerlich auch mit der Aufhebung der Dualität (d.h. der Welt der scheinbaren Gegensätze), weil es eine Getrenntheit zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen im Geistigen nicht wirklich geben kann, da der Geist beides beinhaltet. Dies umfasst übrigens auch alle Fragen des Glaubens und der Religion, also das Glaubende und das Geglaubte. Spirituelle Pfade, wie der Vedanta, Shivaismus, Tantrismus, Buddhismus, Christentum bzw. christlicher Mystizismus, Sufismus, Advaita-Vedanta und ein Kurs in Wundern haben dies erforscht oder berücksichtigt und befassen sich mit der Wirklichkeit jenseits der dualistischen "Gewissheiten" und relationalen Wahrheiten.
Weiter unten findest du Texte, die dir dabei helfen können, dich von solchen Gewissheiten und tief verinnerlichten Glaubensgrundsätzen zu lösen und (damit auch den Geist) zu befreien. Hierzu gehören leidenschaftslose Analysen der Wirklichkeit, wie "Die 3 Merkmale des Seins", "Abhängiges Entstehen" u.a.m.. Viele der hier ausgewählten Texte sind Essays aus der Feder des bekannten Dharmalehrers Christopher Titmuss und erstmalig hier in deutscher Übersetzung hinterlegt. Christopher lässt den Dharma des Buddha hinter dem Nimbus der buddhistischen Folklore (z.B. dem Abidhamma) deutlich werden. Es lohnt aus meiner Sicht auch sehr, andere Pfade des Geistigen zu erkunden. So haben die alten tantrischen Lehren (z.B. aus dem kaschmirischen Tantra) und daran anknüpfende Entwicklungen ein enormes befreiendes Potenzial für den Geist. Auch hierauf nimmt Christopher in einem auch für manche Tantriker vermutlich sehr lesenswerten Essay Bezug.
Tantra, Kurs in Wundern, Dharma & Mahamudra - Pfade der Spiritualität
Tantra, ein altes spirituelles Denksystem, dessen Wurzeln sich bis zur 10 000 Jahre alten Induskultur zurückverfolgen lassen, lässt sich in etwa übersetzen mit "das Wesentliche verweben" (sanskrit: tan = erweitern, ausbreiten, verweben von 36 Tattvas = Grundkategorien des Seins). Es bedeutet Weite, Ausdehnung und Ganzheit. Es kann als eine Art "Metaframe" für alles Seiende verstanden werden und zeichnet sich neben anderem durch den gleichmütigen Blick auf Denkverbote aus, was etwa im 2.-3.Jh auch Anlass für die Hinwendung einiger Buddhisten hin zum Tantra und die Abkehr von der mönchischen Theravada-Tradition mit ihren 227 Vinayas (Verhaltensregeln) war, die großenteils auf der Annahme beruhten, Erleuchtung setze ein auf Übung, Disziplin und Askese beruhendes Erlöschen sinnlichen Genießens voraus, weil die Welt der Erscheinungen ohnehin nur illusionär und deshalb letztlich unbefriedigend sei.
Vor allem aber zeichnet sich der tantrische Ansatz durch das Verweilen in der schöpferischen Kraft des Begehrens und des "kosmischen Erschauerns" aus, was in der Tradition des Theravada eher als leidvolle Option verworfen wird. Gleichermaßen bejaht es auch die Erfahrung der Intensität leidvoller Erlebniszustände. Das Universum wird im Tantrismus als wirklich erachtet, lediglich Konzepte und Bedeutungen sind hier illusionär (wiewohl das Konzept und Gedanke als solches wirklich sind, ist ihr Inhalt Illusion).
Entwicklungen, wie der tibetische Buddhismus mit seiner Lehre des Mahamudra, Dzogchen, Chan und andere, einhergehend mit der Entwicklung des kaschmirischen Shivaismus und Tantrismus haben zu einer wechselseitigen Durchdringung und Beeinflussung shivaitischer, tantrischer und buddhistischer Denksysteme und Pfade der Spiritualität geführt, womit der Buddha mit seiner befreienden Botschaft vermutlich kein Problem gehabt hätte.
Tantra wird heutzutage oft als eine Art Lifestyle-Erotikwellness missverstanden und mitunter sogar mit Massagepraktiken gleichgesetzt, was bestimmten Entwicklungen unserer sexhungrigen Convenience-Gesellschaft oder auch dem sog. "Neotantra" geschuldet sein mag. Das wenigste, was heute unter dem Begriff "Tantra" firmiert, hat insofern irgendetwas mit Tantra im ursprünglichen Sinne und mit Spiritualität zu tun. Vertiefende Schriften zum Tantra finden sich z.B. bei Daniel Odier oder Osho.
Ähnlich dem Tantra integriert "Ein Kurs in Wundern" zwanglos alles zuvor beschriebene. Der Kurs ist zum Selbststudium angelegt und es ist unmöglich, religiöse Institutionen darauf zu gründen. Dennoch scheint es immer wieder jene zu geben, die es trotzdem versuchen. Der Kurs wird gern angefeindet von jenen, denen das Konzept "Schuld" heilig ist und die weiterhin auf einer Dualität zwischen Gott und seiner Schöpfung beharren.
Alle leidvollen Prozesse ranken sich letztendlich um die Identifikation mit dem Körper, um Angst oder Trauer um seine Vergänglichkeit, Besorgnis um seine Gesundheit oder sein Kranksein, seine Schönheit oder Hässlichkeit, sein Geliebt-Werden oder auch nicht, um all die Erfahrungen, die in der Welt mit dem Körper gemacht werden können, um die Bedeutsamkeit des Ich zu feiern, seine Größe, seine Überlegenheit, seine Bescheidenheit, sein Märtyrertum, seine Tragik, um Macht über andere Egos zu erlangen durch Angriff auf deren Körper oder um die Besonderheit des Opferstatus, wenn es darum geht, sich anderen Körpern unterwerfen zu müssen etc.. Und um eine schier unendliche Zahl von Konzepten, die Auswege daraus postulieren, und die sich gleichzeitig scheinbar in einer Art Fluchtbewegung in Richtung Komplexität befinden, in der Annahme, auf diese Weise die Deutungshoheit über Wahrheit und Erleuchtung finden zu können, und vielleicht sogar auch, um einer "reduktionistischen" Festlegung zu entgehen (zu finden vor allem in postmodernen Erkenntnisansätzen, s. Wilber u.a.), ohne jedoch in irgendeiner Weise an der Körpergebundenheit dieser expansiven Konzepte rühren zu können.
Aus Sicht der Grundlagenwissenschaften hat sich Nietzsche's Materialismus längst überlebt und die Physiker sind sich sicher: Wir bestehen aus Wellen. Quarks und Co schaffen die Illusion der Materie. Während aus Sicht des Buddha Dharma der Körper als eine Formation von Elementen betrachtet wird, die durch eine Konstellation von Bedingungen entsteht, und deren konstituierende Merkmale der Wandel (Annica) und die Wesenlosigkeit bzw. "Leerheit" (Anatta) sind, wird der Körper (und damit auch die sinnlich erfahrbare "Welt") im Tantra als "Tempel" der Wirklichkeit oder des transpersonellen Seins, und im Kurs wiederum eher als Kommunikationsmittel - und darüber hinaus als bedeutungslose Illusion innerhalb einer ebenso illusionären Welt - verstanden. Wenn man sich eingehender mit diesen unterschiedlichen Blickwinkeln und Herangehensweisen auseinandersetzt, könnte deutlich werden, dass sie sich in Bezug auf die Wahrheit "dahinter" nicht wirklich widersprechen, und dennoch in verschiedener Weise die Freiheit, das Glück und die Liebe im Blick haben. Im Sinne des Mahamudra geschieht all dies ohnehin aus der Warte des Ozeans einschließlich aller Fische darin, die wir vielleicht glaubten zu sein.
Wie Ken Wilber es schon nahelegte: mache dir klar, wie du deine Erleuchtung interpretierst, denn davon wird sie beeinflusst sein. Versäume es jedoch nicht, einen spirituellen Weg zu gehen, ganz gleich, welcher es sein mag. Insofern Ken Wilber die Welt des wissenschaftlichen Empirismus in seinem 3. Quadranten zur Entität erhebt, sei an dieser Stelle auch auf einen spannenden Diskurs zwischen Grundlagenwissenschaft und Buddhismus verwiesen: Quantum und Lotos.
Letztlich werden wir die Wahl, die wir in Bezug auf die Sicht auf die Wahrheit, Spiritualität, die Welt und das Leben treffen, selbst verantworten. Niemand wird Alimente für unser Ergebnis zahlen. Oder, wie der Buddha schon sagte, "Glaube nicht, was ich dir sage, was irgend jemand dir sagt oder was irgendwo geschrieben steht. Finde es selbst heraus!"