Kaschmirischer Shivaismus (Trika)

Kaschmirischer Shivaismus ist eine herausragende Entwicklung der shivaitischen Bewegung im alten Indien. Der Shivaismus, neben Shaktiismus und Vishnuismus eine der 3 Hauptströmungen des Hinduismus, führte zu zahlreichen recht unterschiedlichen Erscheinungsformen, kaschmirischer Shivaismus
von der volksreligiös geprägten Verehrung eines personifizierten Gottes Shiva bis hin zu einem esoterisch-sektarischen Shivaismus, welcher der Einweihung durch einen Meister / eine Meisterin bedarf, von kultischer dualistischer bis hin zu yogischer oder tantrischer Praxis mit teils buddhistischen Einflüssen (ein Überblick hierzu findet sich z.B. bei Wikipedia).

Während shivaitische Denksysteme zwar grundsätzlich die Einswerdung bzw. das Einssein mit dem Göttlichen, d.h. die Aufhebung der Dualität zum Gegenstand haben, scheinen sie dennoch  oft in der Idee zu verharren, d.h. entweder in der Philosophie und im Studium heiliger Schriften oder aber in einer rituellen yogischen Praxis, die mitunter sich selbst zu genügen scheint und nur rein theoretisch die Möglichkeit in Aussicht stellt, durch Anstrengung und Disziplin und vielleicht auch erst in einem späteren Leben ans Ziel zu gelangen und so die Dualität zu überwinden.

Kaschmirischer Shivaismus, auch als Trika-System bekannt, stellt den non-dualen Gegenentwurf hierzu dar und hat klar zum Ziel, die Verwirklichung bereits in diesem Leben, ja, eigentlich sogar sofort geschehen zu lassen (Ebenso nimmt übrigens auch das Mahamudra, die höchste Lehre des vom kaschmirischen Shivaismus geprägten tibetischen Buddhismus, seinen Ausgangspunkt bereits im Ziel). Es geht also nicht mehr darum, eine besondere Qualität von Bewusstsein hervorzubringen, sondern schlicht darum anzuerkennen, dass wir am Ende bereits diejenigen sind, die wir sein wollen bzw. das sind, was wir sein wollen. Wir sollten also besser damit aufhören zu versuchen, Erleuchtung anderswie hervorzubringen, und uns stattdessen die Gelegenheit geben, dessen gewahr zu werden. 

Das Ego mit seiner begrenzten Bewusstheit ist aus tantrischer Sicht lediglich eine kontrahierte Form Gottes und daher naturgemäß immer im Irrtum. Alles, was wir glauben, existiert nur als Illusion. Auch der Glaube, im Gewahrsein der Wirklichkeit zu sein. 

Insofern beginnt kaschmirischer Shivaismus also bereits mit der "Lösung". Genau genommen, hat es aus dieser Perspektive heraus jedoch niemals ein Problem gegeben, denn alles ist bereits perfekt, weil alles Ausdruck des einen unteilbaren Göttlichen ist. Das Göttliche erscheint dabei mitunter auch sehr profan. Ein ausgeklügeltes System von tantrischen Praktiken (Upāyas) dient diesem Erkenntnisprozess.

Das nordwestindische Kaschmir galt in der Zeit vom 2. bis zu seiner Islamisierung im 13.Jh als spirituelles Epizentrum der damals bekannten Welt, eine Art Schmelztiegel für spirituelle Denksysteme und deren gegenseitiger Beeinflussung und Transformation während im zeitgenössischen Indien „Spiritualität“ als ein aus den Veden rezitierter ritueller Formalismus verstanden wurde, der - ähnlich den Priestern der katholischen Kirche des Mittelalters bis heute -von brahmanischen Priestern institutionalisiert wurde.

Gleichwohl wird davon ausgegangen, dass das non-duale Denken des kaschmirischen Shivaismus seinerzeit eher pan-indisch verbreitet und landesweit unter dem Begriff "Trika" bekannt war. Hierzu passt z.B. auch, dass Matsyendranath, der Begründer des Kaula-Pfades, ursprünglich aus Assam stammte und erst später Schulen in Kaschmir gründete. 

Der Begriff "kaschmirischer Shivaismus" ist in der heutigen Tantraszene recht populär, was großenteils wohl auf das Wirken des Schriftstellers und tantrischen Lehrers Daniel Odier zurückzuführen ist, der hier den Begriff in umstrittener Weise geprägt hat und Deutungshoheit für sich beansprucht, indem er sich auf eine Quelle beruft, die nur ihm selbst zugänglich ist. Vieles davon, wie z.B. seine Auslegung des Tandava-Tanzes findet sich demgegenüber wohl jedoch nicht in den schriftlichen Überlieferungen wieder (s. z.B. https://dancingdragon.co.za/tandava-takedown/).

Insofern beginnt kaschmirischer Shivaismus also bereits mit der "Lösung". Genau genommen, hat es aus dieser Perspektive heraus jedoch niemals ein Problem gegeben, denn alles ist bereits perfekt, weil alles Ausdruck des einen unteilbaren Göttlichen ist. Das Göttliche erscheint dabei mitunter auch sehr profan. Ein ausgeklügeltes System von tantrischen Praktiken (Upayas) dient diesem Erkenntnisprozess.

"Trika", die Dreifaltigkeit, befasst sich im wesentlichen mit der Integration der Position des Wahrnehmenden, dem Prozess der Wahrnehmung und dem Wahrgenommenen (Subjekt-Verb-Objekt - ganz ähnlich übrigens dem christlichen "Vater-heiliger Geist-Sohn") und der Untrennbarkeit dieser Trinität ("3+1"). Dennoch war es - ähnlich auch dem frühen Buddhismus - damals wohl eher nicht der Mainstream der indischen Spiritualität. Näheres hierzu z.B. bei Christopher Wallis:  https://hareesh.org

Die älteste bekannte Verschriftlichung der Lehren dieser Zeit und ist das Vijnāna Bhairava, das in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung entstanden ist. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass ihm das heute als verschollen geltende Rudramayamala vorausging. Für die zeitliche Verortung der Entstehung dieser Texte ist jedoch ohnehin zu berücksichtigen, dass sie zuvor über Jahrhunderte jeweils mündlich vom Meister auf den Schüler übertragen wurden („auf die Lippen gemurmelt“).

Andere frühe Quellen des kaschmirischen Shivaismus werden zwischen dem 3.Jh. v.Chr. und dem 5.Jh n.Chr. angesiedelt.

Die sog. „große kaschmirische Linie“ begann dann im 8. Jh. mit Vasu Gupta, dem Verfasser der Shiva Sutras, der als erster das Vijnāna Bhairava Tantra und andere frühe Texte kommentierte, gefolgt von seinem Schüler Kallata, dem Verfasser des Spandakarika. Es folgte eine Linie von Übertragungen auf Utpaladeva, Lakshmana Gupta, Abhinava Gupta und Kshemaraja.

Abhinava Gupta (etwa 10.-11.Jh) integrierte die ihm seinerzeit vorliegenden 64 Tantras (bzw. "Agamas"= Offenbarungstexte) zu der "Tantrāloka" genannten Enzyklopädie (in etwa zu übersetzen mit "Aufklärung über" oder "Ausleuchtung des" Tantra), zusammen mit seinem Ergänzungswerk Tantrāsara (in etwa "Essenz des Tantra") dem heutigen Grundlagenwerk zum Thema kaschmirischer Shivaismus.

Als weitere wichtige schriftliche Quellen des kaschmirischen Shivaismus gelten:

Die Shiva Sutras (Vasu Gupta)

Das Spandakarika (Kallata)

Das Pratyabhijnahrdayam (Kshemaraja) 

Hinzu kam das Kaulajnananirnayatantra, das im 7.-8. Jh. von Matsyendranath in Assam geschrieben wurde. Matsyendranath begab sich seinerzeit mehrmals nach Kaschmir, um dort den Kaula-Pfad zu lehren und tantrische Gemeinschaften zu gründen. 

Der Kaula-Pfad wurde später von Abhinava Gupta integriert, der sein Tantrāloka mit einer Hommage an Matsyendranath beginnt. 

Das Kaulajnananirnaya-Tantra, noch vor den Shiva Sutras entstanden, gilt als Schlüsseltext, der aufzeigt, wie die frühen Elemente des Tantra mit seinen magischen, alchemistischen Praktiken und der Suche nach okkulten Kräften (Siddhis) zu einer wesentlich philosophischeren und absoluteren Sichtweise geführt haben, die den kaschmirischen Tantrismus ausmachen.

Abhinava Gupta integrierte die Abfolge der unterschiedlichen Schulen:

Krama

Ein stufenweiser Ansatz, bestehend in Yoga-Disziplin, Mantren, Mandalas, Ritualen und der Stabilisierung des Atems

Spanda

Stellt den dynamischen Aspekt des Bewusstseins in den Vordergrund und fokussiert auf Vibration und kosmisches Erschauern

Pratyabhijna

Vertritt den absoluten Verzicht auf Praktiken und die Wiedererkenntnis des Selbst, die die Gesamtheit der Phänomene erfasst

Kaula

Durch Vereinigung von Shiva und Shakti wird der Wiedererkenntnis des Selbst das leidenschaftliche Aufwallen hinzugefügt. 

Der Kaula-Pfad empfiehlt den Verstoß gegen die brahmanischen Verbote (Alkohol, Fleisch, Körner, Fisch, sexuelle Vereinigung, die Kaschmiri wählten meist jedoch nur Wein, Fleisch und sexuelle Vereinigung). 

Dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass kaschmirischer Shivaismus eine erhebliche Anziehung auf die Brahmanen und buddhistischen Mönche seiner Zeit ausübte, deren Gelübde und Traditionen den Genuss weltlicher Freuden weitestgehend verbot. Auch trug dies vermutlich in gewissem Maße zur Entwicklung des tibetischen Buddhismus bei, dessen Lehre vom Mahamudra starke Analogien zum kaschmirischen Shivaismus aufweist.

Um diese Anziehung besser zu verstehen, ist es notwendig, sich klar zu machen, dass es einen ganz grundlegenden Unterschied im Verständnis von Wirklichkeit zwischen den hinduistisch-vedantischen sowie den meisten buddhistischen Denksystemen und dem Tantrismus gibt:

Für den Hinduismus und die meisten buddhistischen Pfade ist die Wirklichkeit illusorisch, und ebenso jener, der sie wahrnimmt, ist illusorisch. Damit erscheint es schnell sinnvoll, sich von Begehren und Emotionen zu lösen und alles „unbefeuert“ im Unendlichen des Nicht-Selbst ruhen zu lassen (Nirvana=„kein Feuer“), was als „Befreiung“, „Erwachen“ u.ä. angesehen wird. Demgegenüber betrachten die Tantriker die Welt als wirklich, weshalb es gilt, die Gesamtheit der sensorischen und emotionalen Erfahrungen zu würdigen und zu integrieren. Die Shivaiten betrachten das Begehren als absolute Bewegung, als schöpferischen Aspekt Shivas und nicht als Ausdruck von Mangel. Es macht gleichzeitig keinen Sinn, die Erfüllung im Greifen nach einem Element zu suchen, welches man selbst „ist“ und auf diese Weise das Selbst zu fragmentieren. Das Verweilen im Begehren, anstatt nach Objekten des Begehrens zu greifen zeichnet daher u.a. den Tantrismus aus. 

Mit Blick auf den Buddhismus, dessen Denksystem auf den Seinsmerkmalen Annica (Vergänglichkeit, Unbeständigkeit), Dhukka (der unbefriedigende, leidvolle Charakter der Objekte des Begehrens) und Anatta (die Wesenlosigkeit bzw. Leerheit der Dinge, die ja -einschließlich des Ich- keinen „Wesenskern“ haben und nur auf bedingtem Entstehen beruhen) aufbaut, lässt sich feststellen, dass hier die Annahme besteht, ein Begehren sei nicht möglich, ohne nach einem Objekt zu greifen und damit eine Kaskade des Leidens auszulösen. Dies wiederum haben manche Buddhisten als Anhaftung an einen Glaubenssatz erkannt. 

Während also die Einen die als Illusion geglaubte Wirklichkeit zum „Nicht-Selbst“ dekonstruieren, verbleibt für die Shivaiten und Tantriker nur das „Selbst“, das alles umfasst als Shiva in all seinen Manifestationen von Wirklichkeit (den 36 Tattvas).

Der Kurs in Wundern geht hier übrigens einen dritten Weg: Wiewohl auch hier die Welt als illusorisch betrachtet wird, verbleibt - ganz ähnlich wie im kaschmirischen Shivaismus - das Selbst als „Sohn Gottes“ bzw. als Gott, der seine Vaterschaft mit uns teilt.

Dirk Schirok