Kaschmirischer Shivaismus

Der Shivaismus, neben Shaktiismus und Vishnuismus eine der 3 Hauptströmungen des Hinduismus, zeigt sich wiederum in zahlreichen recht unterschiedlichen Erscheinungsformen, von der volksreligiös geprägten Verehrung eines personifizierten Gottes Shiva bis hin zu einem esoterisch-sektarischen Shivaismus, welcher der Einweihung durch einen Meister / eine Meisterin bedarf, von kultischer dualistischer bis hin zu yogischer oder tantrischer Praxis mit teils buddhistischen Einflüssen (eine Übersicht hierzu findet sich z.B. bei Wikipedia).

Während zumindest manche shivaitische Denksysteme die Einswerdung mit dem Göttlichen, d.h. die Aufhebung der Dualität zum Gegenstand haben, verharren sie dennoch oft in der Idee, d.h. entweder in der Philosophie und im Studium der komplexen heiligen Schriften oder aber in einer rituellen yogischen Praxis, die eher zum Selbstzweck geworden zu sein scheint und nur rein theoretisch die Möglichkeit in Aussicht stellt, durch Anstrengung und Disziplin und vielleicht auch erst in einem späteren Leben ans Ziel zu gelangen und so die Dualität zu überwinden.

Einen Gegenentwurf hierzu stellt das Mahamudra, die höchste Lehre des ebenfalls von shivaitischen Einflüssen geprägten tibetischen Buddhismus dar, welches seinen Ausgangspunkt bereits im Ziel nimmt, es also nicht mehr darum geht, eine besondere Qualität von Bewusstsein hervorzubringen, sondern schlicht anzuerkennen, dass wir bereits erleuchtet sind. 

In ähnlicher Weise beginnt auch der kaschmirische Shivaismus mit der Lösung.

Das nordwestindische Kaschmir galt in der Zeit vom 2.-13.Jh als spirituelles Epizentrum der damals bekannten Welt, eine Art Schmelztiegel für spirituelle Denksysteme und deren gegenseitiger Beeinflussung und Transformation.

Die älteste bekannte Verschriftlichung der Lehren dieser Zeit ist das Vijnanabhairava, das in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung entstanden ist. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass ihm das heute als verschollen geltende Rudramayamala vorausging. Für die zeitliche Verortung der Entstehung dieser Texte ist jedoch ohnehin zu berücksichtigen, dass sie zuvor über Jahrhunderte jeweils mündlich vom Meister auf den Schüler übertragen wurden („auf die Lippen gemurmelt“).

Andere frühe Quellen werden zwischen dem 3.Jh. v.Chr. und dem 5.Jh n.Chr. angesiedelt.

Die sog. „große kaschmirische Linie“ begann dann im 8.Jh. mit Vasugupta, dem Verfasser der Shiva Sutras, der als erster das Vijnanabhairava Tantra und andere frühe Texte kommentierte, gefolgt von seinem Schüler Kallata, dem Verfasser des Spandakarika. Es folgte eine Linie von Übertragungen auf Utpaladeva, Lakshmanagupta, Abhinavagupta und Kshemaraja.

Als wichtigste schriftliche Quellen der Lehren der alten kaschmirischen Meister gelten:

Die Shiva Sutras (Vasugupta)

Das Spandakarika (Kallata)

Das Pratyabhijnahrdayam (Kshemaraja) 

Hinzu kam das Kaulajnananirnayatantra, das im 7.-8. Jh. von Matsyendranath in Assam geschrieben wurde. Matsyendranath begab sich seinerzeit mehrmals nach Kaschmir, um dort den Kaula-Pfad zu lehren und tantrische Gemeinschaften zu gründen. 

Der Kaula-Pfad wurde später von Abhinavagupta in den kaschmirischen Tantrismus integriert, der sein Tantraloka, die wohl umfassendste Verschriftlichung der kaschmirischen tantrischen Lehren, mit einer Hommage an Matsyendranath beginnt. 

Das Kaulajnananirnaya-Tantra, noch vor den Shiva Sutras entstanden, gilt als Schlüsseltext, der aufzeigt, wie die frühen Elemente des Tantra mit seinen magischen, alchemistischen Praktiken und der Suche nach okkulten Kräften (Siddhis) zu einer wesentlich philosophischeren und absoluteren Sichtweise geführt haben, die den kaschmirischen Tantrismus ausmachen.

Abhinavagupta integrierte die Abfolge der unterschiedlichen Schulen:

Krama

Ein stufenweiser Ansatz, bestehend in Yoga-Disziplin, Mantren, Mandalas, Ritualen und der Stabilisierung des Atems

Spanda

Stellt den dynamischen Aspekt des Bewusstseins in den Vordergrund und fokussiert auf Vibration und kosmisches Erschauern

Pratyabhijna

Vertritt den absoluten Verzicht auf Praktiken und die Wiedererkenntnis des Selbst, die die Gesamtheit der Phänomene erfasst

Kaula

Durch Vereinigung von Shiva und Shakti wird der Wiedererkenntnis des Selbst das leidenschaftliche Aufwallen hinzugefügt. 

Der Kaula-Pfad empfiehlt den Verstoß gegen die brahmanischen Verbote (Alkohol, Fleisch, Körner, Fisch, sexuelle Vereinigung, die Kaschmiri wählten meist jedoch nur Wein, Fleisch und sexuelle Vereinigung). 

Dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass der Tantrismus eine erhebliche Anziehung auf die Brahmanen und buddhistischen Mönche seiner Zeit ausübte, deren Gelübde und Traditionen den Genuss weltlicher Freuden weitestgehend verbot. Auch trug dies vermutlich in gewissem Maße zur Entwicklung des tibetischen Buddhismus bei, dessen Lehre vom Mahamudra starke Analogien zum kaschmirischen Tantrismus aufweist.

Um diese Anziehung besser zu verstehen, ist es notwendig, sich klar zu machen, dass es einen ganz grundlegenden Unterschied im Verständnis von Wirklichkeit zwischen den hinduistisch-vedantischen sowie den meisten buddhistischen Denksystemen und dem Tantrismus gibt:

Für den Hinduismus und die meisten buddhistischen Pfade ist die Wirklichkeit illusorisch, und ebenso jener, der sie wahrnimmt, ist illusorisch. Damit erscheint es schnell sinnvoll, sich von Begehren und Emotionen zu lösen und alles „unbefeuert“ im Unendlichen des Nicht-Selbst ruhen zu lassen (Nirvana=„kein Feuer“), was als „Befreiung“, „Erwachen“ u.ä. angesehen wird. Demgegenüber betrachten die Tantriker die Welt als wirklich, weshalb es gilt, die Gesamtheit der sensorischen und emotionalen Erfahrungen zu integrieren. Die Shivaiten betrachten das Begehren als absolute Bewegung, als schöpferischen Aspekt Shivas und nicht als Ausdruck von Mangel. Es macht gleichzeitig keinen Sinn, die Erfüllung im Greifen nach einem Element zu suchen, welches man selbst „ist“ und auf diese Weise das Selbst zu fragmentieren. Das Verweilen im Begehren, anstatt nach Objekten des Begehrens zu greifen zeichnet daher den Tantrismus aus. 

Mit Blick auf den Buddhismus, dessen Denksystem auf den Seinsmerkmalen Annica (Vergänglichkeit, Unbeständigkeit), Dhukka (der unbefriedigende, leidvolle Charakter der Objekte des Begehrens) und Anatta (die Wesenlosigkeit bzw. Leerheit der Dinge, die ja -einschließlich des Ich- keinen „Wesenskern“ haben und nur auf bedingtem Entstehen beruhen) aufbaut, lässt sich feststellen, dass hier die Annahme besteht, ein Begehren sei nicht möglich, ohne nach einem Objekt zu greifen und damit eine Kaskade des Leidens auszulösen. Dies wiederum haben manche Buddhisten als Anhaftung an einen Glaubenssatz erkannt. 

Während also die Einen die als Illusion geglaubte Wirklichkeit zum „Nicht-Selbst“ dekonstruieren, verbleibt für die Shivaiten und Tantriker nur das „Selbst“, das alles umfasst als Shiva in all seinen Manifestationen von Wirklichkeit (den 36 Tattvas).

Der Kurs in Wundern geht hier übrigens einen dritten Weg: Wiewohl auch hier die Welt als illusorisch betrachtet wird, verbleibt -ganz ähnlich wie im Shivaismus- das Selbst als „Sohn Gottes“ bzw. als Gott, der seine Vaterschaft mit uns teilt.

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