Der Gesang des Erschauerns
Das "kosmische Erschauern" (Spanda) ist das, was bleibt, wenn an nichts mehr festgehalten wird.
Der Gesang des Erschauerns (Spandakarika), der dem Weisen Vasugupta Anfang des 9. Jh. von Shiva offenbart worden sei, ist einer der grundlegenden Texte des kaschmirischen Shivaismus, wird auch als Darstellung des Mahamudra der tibetischen Tradition betrachtet und kann als Essenz des Tantra angesehen werden. "Seine Einfachheit selbst macht tatsächlich die ganze Schwierigkeit aus." (D. Odier). Der Gesang des Erschauerns liegt auch dem heiligen Tandava-Tanz zugrunde, jenem einfachen Yoga, der aus ihm hervorgegangen ist und hierhin zurückführt.
Ausführliche Erläuterungen und Kommentare hierzu finden sich in Daniel Odier: "Das entflammte Herz" (2020, Aquamarin), woraus die folgende Übersetzung des Spandakarika stammt:
1. Die verehrungswürdige Shankari (Shakti), Quelle der Energie, öffnet ihre Augen, und das Universum löst sich in reinem Bewusstsein auf; sie schließt sie, und das Universum zeigt sich in ihr.
2. Das Erschauern – als ureigenster Ort der Schöpfung und der Rückkehr – ist grenzenlos, denn seine Natur ist frei von jeder Form.
3. Sogar im Schoße der Dualität taucht der Tantrika bis zur nicht-dualen Quelle; denn die reine Subjektivität bleibt immer eingetaucht in die eigene Natur.
4. Alle relativen, an das Ego gebundenen Begriffe finden ihre friedvolle Quelle wieder, die zutiefst vergraben ist unter den verschiedenen Seinszuständen.
5. Im absoluten Sinne sind Freude und Leid, Subjekt und Objekt nichts anderes als der Raum des tiefen Bewusstseins.
6./7. Diese grundlegende Wahrheit zu erfassen, bedeutet, überall die absolute Freiheit zu sehen. So hat die Bewegung der Sinne selbst ihren Sitz in dieser grundlegenden Freiheit und ergießt sich aus ihr.
8. Also entrinnt derjenige, der dieses wesentliche Erschauern des Bewusstseins wiederfindet, der Verfinsterung durch das begrenzte Verlangen.
9. Und so, befreit von der Vielzahl der an das Ego gebundenen Impulse, erlebt er die Erfahrung des höchsten Seinszustandes.
10. Also erfasst das Herz, dass die wahre, angeborene Natur zugleich die universal wirkende Kraft ist und die Subjektivität, welche die Welt wahrnimmt. So eingetaucht in das Wissen weiß es und handelt nach seinem Verlangen.
11. Wie könnte dieser entzückte Tantrika, der immer wieder zu seiner ureigenen Natur als Quelle jeglicher Schöpfung zurückkehrt, der Seelenwanderung unterworfen sein?
12. Könnte die Leere ein Objekt der Kontemplation sein, wo wäre dann das Bewusstsein, das sie fürchten würde?
13. Betrachte also die Kontemplation der Leerheit als künstlich und von vergleichbarer Natur mit der einer tiefen Abwesenheit von der Welt.
14./15./16. Der Handelnde und die Handlung selbst sind vereint, aber wenn die Handlung sich durch Vernachlässigen der Früchte des Handelns auflöst, so erschöpft sich die an das Ego gebundene Dynamik selbst, und der Tantrika, zutiefst versunken in dieser Kontemplation, entdeckt das von der Bindung an das Ego befreite Erschauern. Die tiefe Natur dieser Handlung wird dann sichtbar, und der, der die Bewegung des Verlangens verinnerlicht hat, wird keine Auflösung mehr erleben. Er kann nicht aufhören zu existieren, denn er ist zur tiefen Quelle zurückgekehrt.
17. Der erwachte Tantrika verwirklicht dieses kontinuierliche Erschauern durch die drei Seinszustände hindurch.
18. Shiva ist dann in liebender Vereinigung mit Shakti in der Form des Wissens und seines Gegenstandes, während er überall anderswo sich als reines Bewusstsein offenbart.
19. Die gesamte Palette der verschiedenen Arten des Erschauerns findet ihre Quelle im universellen Erschauern des Bewusstseins und rührt so an das Sein. Wie könnte solch ein Erschauern den Tantrika begrenzen?
20. Dennoch verursacht dieses Erschauern selbst den Untergang der Menschen, die einer begrenzten Sicht unterworfen sind, denn wenn ihre Einsicht von der tiefen Quelle losgelöst ist, werfen sie sich in den Strudel der Seelenwanderung.
21. Wer sich mit Inbrunst diesem tiefen Erschauern zuwendet, rührt an seine wahre Natur, selbst dann, wenn er sich mitten in der Aktivität befindet.
22. Das tiefe und beständige Erschauern kann in Extremzuständen erreicht werden: Im Zorn, in intensiver Freude, im mentalen Umherirren oder im Überlebensdrang.
23./24. Wenn der Tantrika sich Shiva/Shakti überlässt, steigen Sonne und Mond im zentralen Kanal auf.
25. Genau in dem Moment, in dem am Himmel Sonne und Mond entschwinden, bleibt der Erwachte klaren Geistes, wohingegen der gewöhnliche Mensch in trüber Unbewusstheit verharrt.
26./27. Wenn die Mantras mit der Kraft des Erschauerns geladen sind, erfüllen sie ihre Funktion durch die Sinne des Erwachten hindurch. Sie vereinigen sich mit dem Geist des Tantrika, der in die Natur von Shiva/Shakti eindringt.
28./29. Jedes Ding taucht aus der individuellen Substanz des Tantrika auf, der sich in Shiva/Shakti wiedererkennt; alles, was ihn beglückt, ist Shiva/Shakti. So gibt es keinen Seinszustand, der einen Namen trüge, der nicht Shiva/Shakti wäre.
30. Indem der Tantrika in der Wirklichkeit, die er als das Spiel seiner eigenen Natur wahrnimmt, immer gegenwärtig ist, wird er inmitten des Lebens selbst befreit.
31. Durch die Intensität des gegenstandslosen Verlangens taucht im Herzen des Tantrika, der eins ist mit dem tiefen Erschauern, die Kontemplation auf.
32. Dieses bedeutet das Erreichen des kostbarsten Nektars, die Unsterblichkeit des Samadhi, die dem Tantrika seine eigene Natur enthüllt.
33./34. Die glühende Sehnsucht nach Shiva/Shakti, die das Universum erschaffen, schenkt dem Tantrika die Erfüllung. Im Verlaufe des Traumes erscheinen Sonne und Mond in seinem Herzen – und alle seine Wünsche werden erfüllt.
35. Wenn der Tantrika jedoch nicht in der Gegenwart lebt, so wird er vom Spiel der Schöpfung getäuscht werden und den illusorischen Seinszustand eines Aspiranten durch Schlaf und Wachen hindurch kennenlernen.
36./37. So wie ein Gegenstand, welcher der Aufmerksamkeit entgeht, klarer wahrgenommen wird, sobald man sich bemüht, ihn besser zu umfassen, so erfährt der Tantrika das höchste Erschauern, wenn er sich ihm glutvoll öffnet. Auf diese Weise stimmt sich alles auf die Essenz seiner wahren Natur ein.
38. Selbst im Zustand äußerster Schwäche wird ein solcher Tantrika zur Vollendung kommen. Auch ausgehungert, wird er seine Nahrung finden.
39. Mit der Erkenntnis des Herzens als einziger Stütze ist der Tantrika allwissend und lebt mit der Welt in Harmonie.
40. Ist der Körper/Geist von Entmutigung geschlagen, die auf Ignoranz basiert, so kann nur die Ausdehnung des Bewusstseins über alle Grenzen hinaus seine Mattigkeit zerstreuen, deren Quelle dann verschwunden sein wird.
41. Die Offenbarung des Selbst geschieht in demjenigen, der einzig absolutes Begehren ist. Möge ein jeder diese Erfahrung machen!
42. Währenddessen das Licht, der Laut, die Form und der Geschmack denjenigen fesseln, der an das Ego gebunden ist.
43. Wenn der Tantrika jegliches Ding mit seinem absoluten Begehren durchdringt, wozu dienen dann noch Worte? Er macht ja selbst die Erfahrung.
44. Der Tantrika möge ganz in der Gegenwart bleiben, mit seinen aufmerksam in der Wirklichkeit ausgebreiteten Sinnen, und er möge so Stabilität erfahren.
45. Wer seiner Kraft durch die dunklen Mächte begrenzter Aktivität beraubt ist, wird zum Spielball der Energie der Töne.
46. Ist er im Feld der subtilen Energien und der mentalen Vorstellungen gefangen, verflüchtigt sich das höchste Ambrosia, und er vergisst seine angeborene Freiheit.
47. Die Macht des Wortes ist immer bereit, die tiefe Natur des Selbst zu verschleiern, denn keine mentale Vorstellung kann auf die Sprache verzichten.
48. Wenn die Energie des Erschauerns ein gewöhnliches Wesen durchdringt, knechtet sie es, während die gleiche Energie den auf dem Weg Befindlichen befreit.
49./50. Der feinstoffliche Körper selbst stellt ein Hindernis dar, das mit der begrenzten Intelligenz und dem Ego zusammenhängt. Der unterworfene Mensch macht Erfahrungen, die auf seinem Glauben beruhen und auf der Vorstellung, die er sich von seinem Körper macht; gerade dadurch wird die Bindung dauerhaft.
51. Doch wenn der Tantrika sich im Erschauern der Wirklichkeit niederlässt, befreit er das Fließen und den Rücklauf der Schöpfung und erfreut sich so der universellen Freiheit als ein Meister des Rades der Energien.
52. Ich verehre die spontane, erschauernde und wundervolle Rede meines Meisters, die mich den Ozean des Zweifels hat durchqueren lassen.
Möge dieses Juwel des Wissens alle Wesen dahin führen, dass sie die wahre Natur der Wirklichkeit berühren und im Tiefsten ihres Herzens bewahren.