das Phänomen des Anhaftens

Die Geschichte vom jungen und vom alten Mönch

Ein alter und ein junger Mönch wanderten einst am Fluss entlang. Als sie an eine Furt kamen, wo man den Fluss überqueren konnte, trafen sie auf ein junges, außerordentlich hübsches Mädchen, das sich nicht traute, den Fluss zu überqueren. „Komm her, Mädchen“, sagte der alte Mönch. Er nahm sie auf die Arme und trug sie auf die andere Seite, wo er sie behutsam wieder absetzte.

Der junge Mönch versank in Schweigen, bis sie spät abends einen Tempel erreichten, wo sie Rast machen konnten. Da konnte er die Frage, die ihn seit Stunden beschäftigte, nicht länger unterdrücken: „Bruder, wir Mönche dürfen Frauen nicht zu nahe kommen, das weißt du“, sagte er zum Alten, „vor allem nicht den jungen und hübschen. Es ist gefährlich. Warum tatest du das?“ „Ich ließ das Mädchen dort stehen“, antwortete der alte Mönch, „trägst du sie noch immer?“

Gemäß Buddhas zweiter Wahrheit der Edlen ist es das Anhaften, aus dem die Leidenszustände entstehen. Anhaften beruht gewissermaßen auf dem Wollen von etwas, das wir nicht wirklich haben können (z.b. „er/sie muss mich doch lieben!“), das uns nicht gut tut (z.B. Süchte) oder ein Nicht-Wollen von etwas, das wir haben müssen (z.B. belastende Erfahrungen aus der Vergangenheit) und dem beharrlichen, oft unbewussten Festhalten an der Vorstellung, dass die Welt -wenigstens in dieser Hinsicht- jetzt anders sein muss, als sie sich tatsächlich offenbart.

Wichtig ist zu verstehen, dass nicht die Begierden und Ansichten, die Überzeugungen oder das eigene Selbsterleben problematisch sind, sondern vielmehr die Fixierung darauf, das Festhalten daran oder das Greifen danach. Es ist möglich, mit Wünschen ganz undramatisch umzugehen, man kann sie wahrnehmen und mitunter befriedigen. Wir können sogar im Begehren verweilen, ohne nach irgendetwas zu greifen und uns an der damit einhergehenden Freiheit und Leichtigkeit erfreuen, wie es im Tantra gelehrt wird.

Ähnlich kann man mit Meinungen und Überzeugungen umgehen, sie erscheinen in der momentanen Situation vielleicht sinnvoll und nützlich. Der heikle Punkt ist das Anhaften. Dieses Phänomen kann man sich wie die Wirkung eines zähen Klebstoffs vorstellen, der dafür sorgt, dass die Haftung an das Objekt oder den damit verbundenen Affekt fixiert bleibt, selbst wenn die Situation vorbei ist oder die Meinung aktuell nicht mehr angemessen ist. Man bleibt in seiner Vorstellung, wie die Dinge sein sollten, befangen und kann die damit nun möglicherweise nicht mehr vereinbare Wirklichkeit nicht akzeptieren. Dieses Anhaften kann mit sehr viel Energieaufwand verbunden sein und zugleich verhindern, dass in der Gegenwart konkreten Schritte unternommen werden, die dafür sorgen können, dass man glücklich und erfolgreich ist. 

Nicht selten sind es alte Muster (Schemata, Prägungen bzw. Konditionierungen), die unseren Anhaftungen zugrunde liegen und die oftmals sehr früh in der Kindheit entstehen. In Verbindung mit der Verletzung kindlicher Grundbedürfnisse bilden wir Urteile und Glaubenssätze über uns selbst und die anderen, über die Welt, das Leben, unsere Rolle darin etc., denen wir Macht und große Bedeutung verleihen, und die uns oft ein Leben lang begleiten und Grundlage unseres Fühlens, Denkens und Handelns sind. Aus neuropsychologischer Sicht handelt es sich dabei um neuronale Erregungsmuster und Erlebnisbereitschaften. Es ist mehr als lohnenswert, die Motive, Ängste und/oder Bedürfnisse hinter unserem Anhaften zu erforschen und im Licht der gegenwärtigen Lebenssituation einen frischen Blick darauf zu richten. Dies kann jedoch erst dann gelingen, wenn wir an den Objekten unserer Anhaftung nicht länger als „Gewissheiten“ festhalten. Nur so können wir sie als das betrachten, was sie sind, ohne aufgrund alter unbewusster Programme („Autopilot“) darauf reagieren zu müssen. Wir brauchen also die Bereitschaft, die Neugierde und den Forschergeist, über den Tellerrand unserer vertrauten Weltsicht hinauszublicken. Und wir brauchen den Mut, uns - nicht nur in der Phantasie - mit dieser Wirklichkeit jenseits aller Vorstellungen und Konzepte zu verbinden und das rückhaltlose Vertrauen darin, dass da etwas ist, was uns trägt. Denn es macht keinen Sinn, einen Glauben durch einen anderen zu ersetzen.

Häufigste Formen des Anhaftens:

  1. Haften an Sinneslust und körperlichen Begierden

  2. Haften an eigenen Ansichten darüber, wie die Dinge sind oder sein sollten

  3. Haften an Regeln und Glaubensüberzeugungen

  4. Haften am Glauben an ein Ich (Ego) und die beständige Identität der eigenen Person

Versteht man, dass das Leben ein ständig wechselnder Strom von Erfahrungen ist, so wird klar, dass auch das eigene Selbst nie gleich ist, sondern sich in jeder Minute wandelt. Es gibt kein beständiges Selbst. Lässt man sich auf den Strom der Erfahrung ein, so ist man Teil dieses Stromes und kann sich daran erfreuen und diesen z.T. auch beeinflussen, aber es ist nicht hilfreich zu erwarten, dass sich die Wirklichkeit den eigenen Forderungen anpasst. Versteht man das eigene Ich als ein geistiges Gebilde, dessen wertvollste Funktion es ist, sich in der gegenwärtig erlebten Wirklichkeit in guter Weise zu bewegen, so könnte man vielleicht daran arbeiten, dass dieses Ich gesund, stabil und wirkungsvoll ist. Man könnte gütig mit ihm sein, ohne ihm gar so viel Bedeutung zu geben. Es ist ein Werkzeug, um in der Welt klarzukommen – mehr nicht. Die vielen Gedanken um den eigenen Wert und das eigene Selbstbild erübrigen sich damit.

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