Gedanken zur Achtsamkeitspraxis

Was ist Achtsamkeit?

Achtsamkeit wird hier verstanden als ein Prozess, bei dem die Aufmerksamkeit nicht- wertend auf den gegenwärtigen Augenblick gerichtet ist. Sie nimmt wahr, was ist, und nicht, was sein soll. Sie ist einerseits nüchtern, real, desillusionierend, andererseits annehmend, integrierend und vielleicht sogar auf mütterliche Weise liebevoll.

Achtsamkeit ist aber noch mehr: Sie ist ein Instrument und eine Technik, um unsere körperlichen, emotionalen und geistigen Zustände wahrzunehmen und damit integrieren zu können. Ferner intensiviert Achtsamkeit den unmittelbaren Kontakt mit der Gegenwart, die ja ständig zu entschwinden droht, wenn sie nicht fest in den Blick genommen wird.

Unachtsamkeit („Autopilot“)

Unser Erleben und Handeln läuft meist schematisch und automatisiert ab und ist uns kaum bewusst. Auch die seelisch quälenden Prozesse funktionieren in diesem Autopilot-Modus. Um aus negativen Grübel- und Bewertungskreisläufen oder leidvollen Erlebnis- und Verhaltensmustern heraus zu finden, ist eine Entscheidung erforderlich, aber auch eine explizite Übung im Wahrnehmen. Die Einsicht in die Entstehungsbedingungen eines Erlebnis- bzw. Verhaltensmusters ist hilfreich, sie schafft aber noch keine anhaltende Verbesserung. Um aus Gewohnheitsmustern heraus zu finden, bedarf es auch des Trainings und des Umlernens. Der Moment der Achtsamkeit ermöglicht es uns, mit frischem Blick auf das Gegenwärtige in die Eigenverantwortlichkeit zurückzufinden und uns auf das Hilfreiche bzw. Heilsame zu besinnen.

Warum Achtsamkeit üben?

Die Achtsamkeitspraxis vermittelt einen Ansatz, um aus belastenden Gedanken und Gefühlen auszusteigen und einen anderen Standpunkt einzunehmen.
Da unser seelisches Leiden davon abhängt, wie wir unsere Wahrnehmungen erleben und bewerten, liegen die Möglichkeiten der Einflussnahme deshalb nicht so sehr in der Außen- und Umwelt, sondern in der Erkenntnis, dass die Wahrnehmung und Interpretation der Phänomene von uns selbst geschaffen wird und dass wir uns dabei auf die Schliche kommen können. Konkret bedeutet dies, dass wir uns selbst bei der Schaffung und Konzeptualisierung unserer Wirklichkeit achtsam zuschauen können. Indem wir das lernen und üben, gelangen wir in einen anderen mentalen Zustand, der allmählich aus dem seelischen Leiden herausführt. Dieser Zustand kann sehr friedlich und beglückend sein und die Erfahrung von Einigkeit mit sich selbst und der Welt ermöglichen.

Die "4 Wahrheiten der Edlen"

Die formale Achtsamkeitspraxis stammt ursprünglich aus der buddhistischen Übungstradition. Es ist keineswegs erforderlich, Buddhist*in zu sein oder zu werden, um Achtsamkeit zu praktizieren, dennoch kann es zum Verständnis hilfreich sein, an dieser Stelle auf die „Vier edlen Wahrheiten“ aus den Lehrreden des Buddha hinzuweisen, einen Basistext, der auch für die Achtsamkeitspraxis bedeutsam ist.

  1. Die erste Wahrheit lehrt, dass es kein Leben ohne Leiden gibt
  2. Die zweite Wahrheit lehrt, dass das Leiden durch Begehren (Anhaften) bedingt ist.
  3. Die dritte Wahrheit lehrt, dass das Leiden beendet werden kann.
  4. Die vierte Wahrheit lehrt, dass es einen Weg gibt, der zur Beendigung des Leidens führt (der „8-fache Pfad“).

Der Übungsweg, der dabei hilft, eine Haltung zu entwickeln, um mit dem unvermeidlichen Leiden akzeptierend umzugehen, wird Mittlerer Weg genannt. Es handelt sich dabei um die Einübung einer Lebensführung, welche explizit keine Extreme pflegt. Letztlich wird eine innere Haltung von Ausgewogenheit, Balance und Stabilität eingeübt. Es ist nicht einfach, immer wieder die Mitte zu finden und sich aus der Schieflage aufzurichten, in die man geraten kann. Je mehr das aber geübt und erlebt wird, umso besser gelingt es, die persönlichen extremen Seiten zu erkennen, zu akzeptieren und zu integrieren. Nichts Persönliches wird ausgegrenzt oder abgespalten, sondern wahrgenommen und verstanden.

Wie-Fertigkeiten

Nicht bewerten, die Phänomene aber möglichst präzise beschreiben. Die eigene Meinung zur Sache nicht mit der Sache selbst verwechseln. Immer bei den Fakten bleiben!

Konzentriert bleiben, stets nur eine Sache auf einmal machen, nicht ablenken lassen! Wenn dies nicht gelingt, sich auf eine Haltung von Großzügigkeit, Geduld und Beharrlichkeit (statt etwa Selbstkritik) besinnen!

Effektiv und wirkungsvoll handeln, den Erfolg im Blick haben, das Richtige zur richtigen Zeit machen. Sich an dem Zweckmäßigen und Notwendigen orientieren und nicht an eigener Stimmung, Bewertung oder Hemmung.

Was-Fertigkeiten

Mit allen fünf Sinnen wahrnehmen und beobachten. Dabei darauf achten, wie sich die Wahrnehmungen unablässig ändern. Nichts festhalten, nichts ablehnen, sei Beobachter mit Interesse, Neugier und Distanz.

Beschreibe mit Worten, was du gerade tust und erlebst. Gib deinen Gefühlen und Regungen eine Bezeichnung. Nenne ein Gefühl ein Gefühl, einen Gedanken einen Gedanken, eine Handlung eine Handlung. Lasse dich nicht vom Inhalt gefangen nehmen.

Nimm aktiv teil an deinem Leben und lasse dich darauf ein. Wie ein Tänzer, Jongleur oder Seiltänzer konzentriere dich auf das gegenwärtige Sein und Tun.

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