Die dunkle Nacht der Seele
Dirk Schirok
Wenn wir infolge einer Trennung seitens des Partners oder der Partnerin die Erfahrung machen, dass uns plötzlich scheinbar alles genommen wird, all das Schöne und Lebendige, Nähe und Geborgenheit oder zumindest die Aussicht darauf, das Leuchten in der Bewusstheit der geteilten Intimität, in der Gemeinsamkeit der alltäglichen Lebensgestaltung, des miteinander-zuhause-seins, der gemeinsamen Unternehmungen mit anderen, dem gemeinsamen „Ziehen an einem Strang“ bei der Entwicklung von Projekten und Verfolgung gemeinsamer Ziele und ebenso der körperlichen Intimität, dann machen wir die Erfahrung vollkommener Verlassenheit und tiefsten emotionalen Schmerzes.
Diese Erfahrung ist Gegenstand unzähliger Romane und Gedichte und wurde und wird in zahllosen Pop-Songs und Jazz Standards besungen, angefangen bei „You don't know what Love Is“ bis hin zu „Autumn Leaves“, „round Midnight“, „Stardust“ und „The Cost of Living“.
Manche Autoren nennen diese Erfahrung „die dunkle Nacht der Seele“, und auch manch therapeutische Literatur nimmt darauf Bezug.
Für nicht wenige ist dies dann der Moment, um die Wiederherstellung des verletzten Selbst zu ringen und den abgrundtiefen Schmerz dahinter irgendwie abzuwehren, egal wie.
Gern wird dann der Beistand von Freunden oder Familie gesucht zum Trost und zur Bestärkung des gekränkten Egos, oder es wird die Flucht in das Rationalisieren, in das Sich-Ablenken oder Betäuben mit stoffgebundenen oder nicht-stoffgebundenen Süchten oder Tätigkeiten gewählt, und sei es durch exzessive Lektüre von Selbsthilfeliteratur oder auch durch das Aufsuchen von Psychotherapie.
Der Partner oder die Partnerin wird dann gern pathologisiert, dämonisiert oder abgewertet in dem Versuch, die Würde des gekränkten Egos wiederherzustellen. Oder aber es wird anklammernd versucht, mit allen Mitteln um die Beziehung zu kämpfen und den Partner oder die Partnerin dazu zu bewegen, zurückzukehren. Oder aber man flüchtet sich schnell wieder in eine neue Beziehung. Dies hier soll keine vollständige Liste aller Möglichkeiten sein. Wenn dir dennoch etwas davon bekannt vorkommt, dann hattest du bereits Bekanntschaft mit dieser Seite in dir gemacht, die in einem Verlassenheitstrauma feststeckt und die darauf wartet, von dir gesehen zu werden.
Es könnte dir bereits klar sein, dass dein Partner oder deine Partnerin lediglich einen Knopf bei dir gedrückt hatte, ganz gleich, wie widersinnig, lieblos, unverständlich, destruktiv oder pathologisch sein oder ihr Verhalten gewesen und auch aus welchen Motiven es geschehen sein mag. Natürlich gibt es keinen guten Grund, sich gegen die Liebe zu entscheiden, wenn man glücklich und frei sein will.
Dein Schmerz war jedoch bereits früher da. Und all die oben aufgeführten Verhaltensweisen sollen dazu dienen zu verhindern, ihn nochmals in der Tiefe zu spüren.
Es ist der Schmerz einer Erfahrung, die wir alle auf die ein oder andere Weise gemacht hatten, als wir -völlig schutzlos, abhängig und ausgeliefert- mit dem allerwichtigsten alleingelassen wurden. Als wir die Erfahrung der Getrenntheit machen mussten, nachdem wir noch im Gewahrsam des Ozeans des Lebens mit all seiner überschäumenden Fülle, Magie, all dem Vibrieren, der unendlichen Leichtigkeit und Freude waren, und wir diesem jäh entrissen wurden; als uns auf diese Weise alles Schöne und Lebendige, all das Leuchten genommen wurde und wir uns in die Welt der Erwachsenen hineinsozialisieren mussten, in der niemand diese Erfahrung mit uns teilen konnte, weil alle sie schon längst abgespalten hatten. Ganz gleich, wie bemüht, liebevoll und pädagogisch kompetent unsere Eltern oder primären Bezugspersonen waren. Nicht selten kamen dann noch weitere Traumatisierungen hinzu, wie Gewalt, Vernachlässigung oder emotionaler Missbrauch, was diese Trennung vom Leben besiegelte und wir uns nun ganz und gar auf unsere Schutz- und Bewältigungsstrategien verlassen mussten.
Dies ist die Verlassenheit, die hier gemeint ist, und der hiermit verbundene Schmerz ist unendlich. Wir wollen ihn nicht nochmals erfahren und spüren und haben dafür ein gewaltiges Arsenal an Schutzmechanismen aufgefahren. Unsere Welt ist darauf gegründet und dient der Ablenkung in vielfältigster Weise.
Im Buddhismus wird diese „dunkle Nacht der Seele“ mitunter auch als „Tempel der 1000 Dämonen“ bezeichnet, und auch anderen spirituellen Denksystemen wie dem Tantrismus oder Shivaismus ist die Bedeutung dieses Schmerzes und die Notwendigkeit, ihn anzunehmen, um Befreiung zu finden, nicht fremd. Es erscheint vielmehr unmöglich, Frieden zu finden, wenn wir diesen Schmerz vermeiden, denn so lange wir vermeiden, sind wir im Kampf. Gleichzeitig ist zum Beispiel das Leben des Mönches, ebenso wie das des bekennenden Singles darauf ausgerichtet, jedwede Erfahrungen zu vermeiden, die geeignet sind, um diesen Schmerz auszulösen. Wir können diesen Schmerz andererseits auch nicht herbeimeditieren oder sonstwie künstlich herbeizwingen und kontrolliert hervorbringen, um eine tiefgreifende spirituelle Erfahrung zu machen um dann „da weiter zu kommen“.
Es ist genau dieses Risiko, welches wir eingehen, wenn wir die geteilte Intimität in der Partnerschaft suchen und unsere Beziehung nicht auf ein System fauler Kompromisse der Emotionsvermeidung gründen. Ist unser Partner oder unsere Partnerin nicht gerade erleuchtet, und sind wir selbst es ebenfalls nicht, so werden wir mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann diese Erfahrung machen. Sie ist uns zumutbar. Wie das Leben selbst.
Wir können es als Einladung verstehen, der Wirklichkeit in uns selbst zu begegnen, ganz in den Körper hineinzuspüren, auch unterhalb des Zwerchfells, da, wo der Verstand nicht hinreicht und nur gespürt werden kann, wass wirklich da ist, anstatt uns wieder in den Kopf und in die Konzepte zu flüchten. Wir haben Gelegenheit, endlich einer Seite in uns zu begegnen, die schon lange darauf wartet. Und wir sollten die Einladung nicht ausschlagen!
Es heißt, Shiva erschafft die Shakti, die Welt mit all ihrer Unwissenheit, mit all ihrer fragmentierten Bewusstheit, um sich darin zu verlieren. Aus reiner überquellender Freude daran, sich selbst wieder zu finden.
Wir alle sind Shiva. Mögen wir zu Glück und Frieden zurückfinden.