Hier folgt ein Auszug aus "Die geheimen Lehren des Kashmir Shivaismus“ von John Hughes und Swami Lakshmanjoo (2014, Aquamarin). Swami Lakshmanjoo kommentiert hier die "Fünfzehn Verse der Weisheit", einen Basistext des großen kaschmirischen Meisters Abhinavagupta (10.Jh).

Fünfzehn Verse der Weisheit


Heute werde ich über einen kurzen Text, mit dem Titel „Fünfzehn Verse der Weisheit“ (Bodhapañcadaśikā) von Abhinavagupta sprechen, dem großen Meister aller Aspekte des kaschmirischen Shivaismus. Diese fünfzehn Verse geben eine kurze Darlegung der Lehre des kaschmirischen Shivaismus und fangen seine Hauptwesensmerkmale ein.


1. Der Lichtglanz des einen Wesens erlischt nicht im äußeren Licht oder in der Dunkelheit, da Licht und Dunkel in dem höchsten Licht des Gottesbewusstseins seinen Sitz haben.


Das Licht der Kerze wird vom Sonnenlicht überstrahlt, aber der strahlende Lichtglanz dieses Wesens wird nicht von äußerem Licht oder der Dunkelheit überschattet, denn jedes äußere Licht, jede Dunkelheit ruht in diesem höchsten Bewusstseinslicht.


2. Dieses Wesen wird Lord Śiva genannt. Er ist die Natur aller Wesen. Die äußere objektive Welt ist die Ausdehnung Seiner Energie, erfüllt vom Glanz der Herrlichkeit des Gottesbewusstseins.


Dieses Eine Lichtwesen wird Lord Śiva genannt. Die äußere Ansammlung, die die objektive Welt ausmacht, ist Seine Energie (śakti). Die äußere Welt ist nichts weiter als die Ausdehnung Seiner Energie. Sie ist nicht getrennt von Seiner Energie. Diese Energie ist erfüllt vom Glanz der Herrlichkeit des Gottesbewusstseins. Und so sehen wir, dass Śiva der Energieträger und der Universalzustand des objektiven Feldes Seine Energie, Seine Śakti ist.

3. Śiva und Śakti sind sich ihrer Trennung nicht bewusst. Sie sind miteinander verwoben, so wie das Feuer mit der Hitze eins ist.


Wenn wir um der Erklärung willen Śiva und Śakti voneinander unterscheiden, dann könnte man sagen, dass Śakti dieses ganze Universum ist, und das, was aus dem Universum hervorgeht, ist Śiva. Śiva und Śakti, Lord Śiva und diese Welt, sind sich nicht bewusst, dass sie getrennt sind. Warum? Einfach, weil sie in Wirklichkeit keineswegs getrennt sind. Der Zustand Śivas und der Zustand des Universums sind ein und derselbe, ebenso wie das Feuer eins ist mit der Hitze. Die Hitze ist nicht vom Feuer getrennt; das Feuer ist nicht getrennt von der Hitze.

4. Er ist der Gott Bhairava. Er erschafft, beschützt, zerstört, verbirgt und enthüllt sein Wesen im Zyklus dieser Welt. Dieses gesamte Universum wurde von Gott nach Seinem eigenen Wesen geschaffen, so wie sich die Welt in einem Spiegel reflektiert.


Dieses Universum wurde von Śiva nach Seinem eigenen Wesen erschaffen. Der Herr beschützt und stärkt das Universum. Zwischen dem Universum und seinem Träger, dem Schöpfer des Universums, gibt es keinen Unterschied. Dieses Universum ist eine Widerspiegelung (pratibimba) Śivas. Es wird nicht in derselben Weise erschaffen wie eine Frau ein Kind hervorbringt, das bei der Geburt von ihr getrennt ist. Dieses Universum wird in derselben Weise geschaffen wie das Bild eines Objektes, wie das Spiegelbild einer Stadt. Im Falle Śivas gibt es keine Stadt, die unabhängig von dem Spiegel existiert. Das Einzige, was existiert, ist die im Spiegelbild wahrgenommene Stadt. Es gibt kein getrenntes, im Spiegel reflektiertes Objekt. Śiva erschafft dieses gesamte Universum nach dem Bilde Seiner eigenen Natur durch Seine Unabhängigkeit (svātantrya), Seine Freiheit.


5. Der Zustand des Universums ist Seine höchste Energie (śakti), die Er erschuf, um Seine eigene Natur zu erkennen. Śakti, die Verkörperung des Zustandes des Universums, liebt es, den Zustand des Gottesbewusstseins zu besitzen. Sie befindet sich im Zustand der Unwissenheit und bleibt doch in jedem Objekt vollkommen und in der Fülle.


Warum hat Er die höchste Energie in Seiner eigenen Natur erschaffen? Er tat dies aus einem einzigen Grunde – Seine eigene Natur zu erkennen. Dieses gesamte Universum ist nichts anderes als die Möglichkeiten, durch die wir Śiva erkennen werden.
Du kannst Śiva durch das Universum erkennen, nicht indem du dich von ihm abwendest, sondern indem du das Gottesbewusstsein in der Aktivität der Welt selbst beobachtest und erfährst. Bleibst du aber vom Universum getrennt und versuchst, Gottesbewusstsein zu verwirklichen, wird es Jahrhunderte dauern. Bleibst du aber in der Aktivität des Universums und achtest darauf, Gottesbewusstsein zu erlangen, wirst du es sehr leicht erreichen.
Im Universum also herrscht Unwissenheit, und es gibt einen Weg, sich von dieser Unwissenheit zu befreien. Es ist der Weg, in der Aktivität der Welt zu meditieren.
Śiva erschafft dieses äußere Universum, um des Erkennens Seiner eigenen Natur willen. Daher wird dieses äußere Universum Śakti genannt, da sie die Möglichkeit bietet, die eigene Natur zu erkennen.
Als Er ausschließlich Śiva war, befand er sich im vollen Glanze des Gottesbewusstseins. Er erkannte Seine eigene Natur nicht, weil sie bereits da war. Aber Er wünscht das Erkennen Seiner eigenen Natur. Doch weil sie bereits da ist, gibt es nichts zu erkennen. Um Seine eigene Natur zu erkennen, muss er zuerst Seiner Natur unwissend werden. Erst dann kann Er sie erkennen. Warum sollte Er Seine Natur überhaupt erkennen wollen? Der Grund ist Seine Freiheit, Seine svātantrya (Unabhängigkeit). Dies ist das Spiel des Universums. Das Universum wurde allein zum Vergnügen und zur Freude dieses Erkennens geschaffen. Wenn Seine Fülle überströmt, wünscht Er, unvollständig zu bleiben. Er wünscht, unvollendet zu erscheinen, um Vollendung zu erlangen. Dies ist das Spiel seiner svātantrya – sich von Seiner eigenen Natur zu entfernen, um sich ihrer erneut zu erfreuen. Es ist diese svātantrya, die das gesamte Universum erschaffen hat. Dies ist das Spiel von Śivas svātantrya.

Dieser Prozess ist auch bekannt als unmeṣa und nimeṣa. Unmeṣa ist das Erblühen dieses Gottesbewusstseins, und nimeṣa ist das Zurückziehen dieses Gottesbewusstseins. Unmeṣa ist Expansion und nimeṣa ist Kontraktion. Śiva trägt beide Zustände gleichermaßen in Sich.
Als Seine Natur überströmte, war Śakti2 in Seiner eigenen Natur. Dann musste Er Śakti von Seiner Natur trennen. In dieser abgetrennten Śakti existierte Śiva ebenso. Doch in diesem Zustand ist Śiva unwissend und wünscht, wieder die Fülle Seines Wissens zu besitzen.
Der Beweis, dass Śiva bereits erfüllt von Wissen war, während Er sich im Zustand der Unwissenheit befand, zeigt sich in der Tatsache, dass Er in dem Moment, in dem Er Seine eigene Natur erkennt und von Wissen erfüllt ist, die Erfahrung macht, dass der Zustand des Wissens bereits da war.3 Es hat also niemals eine wirkliche Trennung gegeben. Es hatte nur den Anschein einer Trennung.

6. Der höchste Herr Śiva, der alles durchdringt und zusammen mit der Energie Seiner eigenen Natur Gefallen am spielerischen Auf und Ab findet, bringt gleichzeitig die Vielfalt an Schöpfung und Zerstörung hervor.


Dieser höchste, alles durchdringende Herr Śiva gestaltet mit der Energie Seiner eigenen Natur die Vielfalt von Schöpfung und Zerstörung.
Er erschafft Vögel, Er erschafft Käfer, Er erschafft alles in dieser Welt. Er erschafft alles Mögliche und Unmögliche. Und Er erschafft es nicht nacheinander. Er erschafft es gleichzeitig (yugapat). Aber zu welchem Zweck geschieht dies alles? Es geschieht mit der Absicht, zu entdecken, dass in der gesamten Schöpfung Gottesbewusstsein existiert. Was ist die Energie Seiner eigenen Natur? Allumfassende Existenz, der ganze Kreislauf des Universums. Śiva findet Gefallen daran, mit diesem alles umfassenden Kreislauf des Universums auf und ab zu tanzen und zu fallen.
Nehmen wir das Beispiel eines kleinen Jungen. Es kann geschehen, dass er vor lauter Erregung wild umherspringt und sich den Kopf anstößt. In gleicher Weise hat Gott die Ekstase Seiner eigenen Natur verborgen. Er möchte diese Ekstase loslösen, aber diese Ekstase kann in Wirklichkeit überhaupt nicht getrennt werden. Der Herr weiß das. Dennoch löst Er sie vorübergehend zu Seinem eigenen Vergnügen. Wenn er Seine eigene Natur erneut erkennt, fühlt Er, dass die Ekstase schon da war

7. Diese höchste Tat kann von keiner anderen Kraft in diesem Universum vollbracht werden, außer von Śiva, der absolut unabhängig, absolut glorreich und intelligent ist.


Eine solche Tat vermag außer Śiva keine andere Kraft im Universum zu vollbringen. Allein der Herr kann es. Allein Śiva, durch Seine eigene svātantrya, vermag Seine eigene Natur völlig zu ignorieren und zu verbergen.
Śiva wünscht, Sein Gottesbewusstsein in Seiner Schöpfung völlig loszulösen, um zu entdecken, dass es niemals losgelöst war. Im eigentlichen Sinne ist es nicht abgetrennt. Dies ist die höchste Tat.
Wenn du voller Leben bist, wie kannst du dann ohne Leben sein? Du kannst es nicht, aber der Herr Śiva kann es. Er kann ohne Leben werden. Er kann völlig empfindungslos (jaḍa) und völlig vom Gottesbewusstsein losgelöst werden, wie ein Fels. Denn wo existiert Śiva in einem Felsen? Im Felsen ist nichts. Er ist nur ein Fels.
Dies sind Seine svātantrya, Seine Herrlichkeit, Seine Intelligenz. Intelligenz bedeutet nicht, dass du in diesem Super-Drama, Schöpfung genannt, nur den Part einer Frau oder eines Mannes spielst. Mit dieser Art von Intelligenz wirst du auch die Rolle von Felsen, Bäumen und von allen Dingen spielen. Diese Art von Intelligenz findet sich nur im Zustand des Herrn Śiva und nirgendwo sonst.

8. Der begrenzte Bewusstseinszustand ist empfindungslos und kann sich nicht gleichzeitig ausdehnen, um die verschiedenen Formen des Universums zu werden. Der Besitzer der Unabhängigkeit unterscheidet sich vollkommen von diesem empfindungslosen Bewusstseinszustand. Du kannst Ihn daher nicht nur in einer einzigen Weise erkennen. In dem Augenblick, in dem du Ihn in einer Weise erkennst, wirst du Ihn auch in anderer Weise erkennen.


In diesem Super-Drama der Schöpfung kann der begrenzte Bewusstseinszustand nur auf individueller Ebene eine Rolle spielen. Hat das Bewusstsein die Rolle eines Felsen angenommen, kann es in diesem Moment nicht gleichzeitig ein Baum, ein Vogel, ein Tiger, ein Mensch oder die Götter Brahma, Rudra, Viṣṇu, Īśvara und Sadāśiva werden. Der Herr Śiva hingegen kann es. Er ist gleichzeitig alle diese Formen geworden und ebenso jede Form im Universum. Auf diese Weise breitet und dehnt Er Seine eigene Natur aus.
Du weißt, dass ein normal begrenztes Wesen, das an einem Ort lebt, nicht gleichzeitig an einem anderen Ort leben kann. Für das Gottesbewusstsein trifft dies nicht zu. Das Gottesbewusstsein ist überall in jeglicher Weise. Es ist allezeit in der Gegenwart, in der Vergangenheit und in der Zukunft. Das Gottesbewusstsein wird nicht begrenzt durch Raum und Zeit.
Der begrenzte Seinszustand ist empfindungslos (jaḍa) und doch ist der Träger des Zustands der Empfindungslosigkeit vollständig unabhängig (svatantra), intelligent (bodha) und absolut unterschieden (vilakṣaṇa) von diesem Zustand.
Diese begrenzte „Bewusstseinsform“ wird demnach allein der Empfindungslosigkeit zugeordnet. Zum Beispiel ist ein Fels eine Schöpfung Gottes, auch wenn er nur ein Fels ist. Aber ein Fels ist Gott selbst, wenn er als Fels auch ein Mensch, ein Gott, ein Baum, ein Vogel ist.

Dies ist Sein Spiel. Es ist der Grund, warum Er differenzierte Exis­tenz erschaffen hat. In Seinem Spiel hat Er diese Art von Streich gespielt, bei dem der Fels nur ein Fels wird. Er ist sich nichts bewusst, auch nicht seiner wahren Natur als universales Got­tes­bewusstsein. Und in Seinem Spiel hat Er Freude an dem Zu­stand eines Felsens, der als Fels begrenzt und auch universal ist.
Man muss also zwei Zustände betrachten, den Zustand der Unwissenheit und den Zustand des Wissens. Wenn Wissen da ist, dann ist ein Fels nicht nur ein Fels, er ist auch universal. Mit Wissen ist ein Fels ein Fels und auch alle Leute. Er ist alle Bäume, er ist alles und jedes. Wenn Intelligenz da ist, ist ein Fels jedes und jeder. Aber wenn ein Fels nur ein Fels ist, wenn er unwissend ist, dann ist er ein Fels und nichts anderes. Aber gleichzeitig ist in diesem Fels Gott zufrieden.
Śiva erfreut sich an dem scheinbar begrenzten Aspekt der Unwissenheit, weil Er weiß, dass die Unwissenheit im eigentlichen Sinne nicht Unwissenheit ist. Er erfreut sich daran. Du kannst Ihn also nur in einer Weise erkennen. In dem Augenblick, in dem du Ihn in der einen Weise erkennst, wirst du Ihn auch auf die andere Weise erkennen. Dies ist die Realität im kaschmirischen Shivaismus, wie Abhinavagupta ihn erklärt.

9. Der Herr Śiva, der absolut unabhängig (svatantra) ist, trägt die Vielfalt von Schöpfung und Zerstörung in Seiner eigenen Natur. Und gleichzeitig existiert diese Vielfalt in ihrer eigenen Weise als das Feld der Unwissenheit.


Aus diesem Grunde haben uns unsere Meister gelehrt zu meditieren, um herauszufinden, was der Fels wirklich ist. Wenn du meditierst, wird der Fels universal.
Wenn da nichts ist, gibt es kein Problem. Wenn da nur du selbst bist, gibt es ein Problem. Wenn da nur die andere Person ist, dann ist da ein Problem. Aber sobald du begreifst, dass du universal bist, dann ist da kein Problem. Dies ist der Grund, warum im Shivaismus die Meditation entwickelt worden ist, damit du die Realität des Gottesbewusstseins erkennst.

Schöpfung und Zerstörung (sṛiṣṭi-saṁhāra) finden zusammen statt. Auf diese Weise gibt es Schöpfung und Zerstörung im Aktionszyklus und Schöpfung und Zerstörung im Wissenszyklus. Schöpfung und Zerstörung im Aktionszyklus ist das, was in der Welt der Unwissenheit geschieht. Da ist zum Beispiel ein Berg. Er ist erschaffen und existiert im Bereich der Aktivität. Das Ergebnis dieser Aktivität ist es, dass der Berg nach Jahrtausenden zu Staub werden wird. Er wird in sich zerfallen. Dies ist Schöpfung und Zerstörung im Aktionszyklus.
Nun musst du diesen Prozess, die Aktivität dieses erschaffenen Dinges, in Wissen umwandeln. Dann wird der Vorgang universal. In dieser Universalität ist Wissen, reines Wissen (pūrṇa-jñāna). In dieser Schöpfung und Zerstörung wird Wissen zerstört, wenn die Tat hervorgebracht wird, und wenn Wissen erzeugt wird, wird die Tat zerstört.
Ich nehme also einen Berg wahr. Er ist in Bewegung. Er zerfällt allmählich zu Staub. Nehme ich ihn wissend wahr, wird das Wissen des Gottesbewusstseins diese Wahrnehmung transformieren und umfassend machen, und ich werde nicht fühlen, dass er sich in Bewegung befindet; denn nach Jahrtausenden wird dieser Berg zu Staub werden. Ich werde fühlen, dass er die Form von Staub angenommen hat. Ich werde nicht fühlen, dass er zerstört ist. Er war also nicht in Bewegung, er war im Wissen. In seiner Ganzheit ist ein Fels Gott, und Staub ist ebenfalls Gott.
Zu erkennen, dass es keinen Unterschied zwischen dem Staub und dem Felsen gibt, heißt zu wissen. Am Anfang war der Staub ein Fels und besaß die Gestalt eines Felsen. Nach Jahrtausenden veränderte sich die Gestalt des Felsens und wurde Staub. Doch wenn da wahres Wissen ist, gibt es keinen Unterschied zwischen Fels und Staub. Das ist Gott.
Der Wechsel von Schöpfung und Zerstörung findet in dieser Weise ohne irgendeinen Effekt statt. Erfolgte der Wechsel von Schöpfung und Zerstörung nur in der Bewegung und nicht im Wissen, dann fänden sie tatsächlich statt. Wenn nach vielen Leben wahres Wissen heraufdämmert, dann wirst du feststellen und erkennen, dass von Anfang an eigentlich nichts geschah. Du warst bereits dort. Obwohl wahres Wissen zerstört zu sein schien, war es nicht zerstört. Dies ist der Streich, das Spiel Śivas, Wissen erscheinen zu lassen, als sei es zerstört worden.
Was ist der Sinn der Bewegung? Sie ist völlig unabhängig und ein Spiel. Der Sinn dieser Bewegung ist Spiel.

Es heißt:
In dem Moment, in dem Gottesbewusstsein erreicht wird, verlieren Vergnügen und Schmerz ihren Stellenwert. Vergnügen, Schmerz, Tod und Leben sind dasselbe. In diesem Moment sind Gefangenschaft und Befreiung dasselbe. Existenz und Nicht-Existenz sind dasselbe. Ein Fels zu werden und intelligent zu werden, ist dasselbe.

In Vers neun erklärt Abhinavagupta, dass die Vielfalt von Schöpfung und Zerstörung in der eigenen Natur des Herrn Śiva ihren Sitz haben. Śiva erschafft, beschützt und zerstört dieses Universum. Er selbst verbirgt und offenbart sich in Seiner eigenen Natur. Im nächsten Vers heißt es:
 

10. In dieser Welt wirst du eine Vielfalt an Schöpfungen und Zerstörungen sehen, von denen einige in dem oberen und andere in dem unteren Kreis und einige sogar seitlich erschaffen worden sind. Angeschlossen an diese Welten sind kleinere Teilwelten erschaffen. Schmerz, Freude und intellektuelle Kraft sind der Seinsebene entsprechend erschaffen. Dies ist die Welt.


In dieser Welt findest du eine Vielfalt an Schöpfungen und Zerstörungen. Und in dieser Vielfalt gibt es Variationen. Variation bedeutet, dass die Vielfalt an Schöpfungen und Zerstörungen nicht übereinstimmen. Unsere Zeit von vierundzwanzig Stunden entspricht der Lebensspanne eines Moskitos. Mit anderen Worten, vierundzwanzig Stunden für einen Menschen entsprechen einhundert Jahre für einen Moskito. Es heißt, dass sechs Monate für einen Menschen vierundzwanzig Stunden für jene Götter sind, die in den Welten der Ahnen (pitṛi-loka) wohnen. So dehnt sich die Zeit aus. Unsere sechs Monate entsprechen ihren vierundzwanzig Stunden. Diese Ausdehnung der Zeit setzt sich bis zu Śiva fort, dessen Wimpernschlag einer Lebensspanne von hundert Jahren Sadāśivas gleichkommt.6 Es ist die Vielfalt, die wir in diesem Universum von hundertachtzehn Welten erfahren.

Dies ist die Variation in der Vielfältigkeit von Schöpfung und Zerstörung, und diese Vielfältigkeit entspricht der Zeit. Deshalb kannst du dich nicht auf die Zeit verlassen. Die Zeit erscheint nur. Sie existiert nicht.
Daher spricht Abhinavagupta in diesem Vers davon, dass es in jenen hundertachtzehn Welten eine Vielzahl von Schöpfungen gibt und Schmerz, Freude und intellektuelle Kraft der jeweiligen Seinsebene entsprechend erschaffen worden sind.
Ein Moskito kann nicht meditieren. Śiva hingegen kann es. Die intellektuelle Kraft ist somit unterschiedlich erschaffen. Die intellektuelle Kraft, die ein Moskito besitzt, entspricht seiner Existenz. Der Herr Śiva verfügt über eine intellektuelle Kraft, die Seiner Ebene entspricht. Diese intellektuelle Kraft gehört ebenfalls zu Seinem Spiel. Dies ist die Welt.

11. Wenn du nicht verstehst, dass es eigentlich keine Zeitspanne gibt, dann ist dieses Missverständnis ebenfalls die Unabhängigkeit (svātantrya) des Herrn Shiva. Dieses Missverständnis resultiert in der weltlichen Existenz (saṁsāra). Und diejenigen, die unwissend sind, fürchten sich vor der weltlichen Existenz.


Wäre die Vorstellung von Zeit korrekt, gäbe es die Zeitdifferenz nicht, bei der ein menschlicher Tag hundert Lebensjahre eines Moskitos entspräche. Diese Zeitdifferenz ist ebenfalls die Unabhängigkeit (svātantrya) Śivas. Solltest du „Warum?“ fragen, werde ich dir antworten, nicht zu tief eintauchen zu wollen. Dieses „Warum“ kann nicht verstanden werden, und dieses Nichtverstehen ist ebenfalls die svātantrya Śivas.
In dieser weltlichen Existenz (saṁsāra) fürchten sich die Leute und schreien auf wegen dieses unabhängigen, freien Willens Śivas. Sie wissen nichts davon, und sie wissen nicht, dass sie nicht wissen. Sie fühlen nicht einmal, dass sie nicht wissen. Wenn sie fühlten, dass sie nicht wissen, wüssten sie. Ihr Nichtwissen ängstigt sie, und dass sie nicht wissen, dass sie nicht wissen. Es ist reine Unwissenheit. Es ist jene Unwissenheit, bei der die Unwissenden nicht wissen, dass sie unwissend sind.
 

12.&13. Wenn du, weil der Herr Śiva Seine Gnade über dich ergießt oder aufgrund der Lehren oder vibrierenden Kraft deines Meisters oder des Verstehens der Schriften in Bezug auf den höchsten Śiva, die wahre Realität begreifst, ist dies der lebendige Zustand des Herrn Śiva, die endgültige Befreiung. Diese Fülle wird von edlen Seelen erlangt und als die Erfüllung in diesem Leben bezeichnet (jīvanmukti).


Die Yogis erkennen, dass saṁsāra nur ein Trick ist und es in Wirklichkeit keine Zeitspanne gibt. Sie wissen, dass, falls es eine Zeitspanne gäbe, keine Zeitunterschiede existierten. Wenn die Zeit tatsächlich existierte, wären vierundzwanzig Stunden für einen Moskito dieselben wie für einen Menschen und dieselben wie für den Herrn Śiva.
In diesem Universum von hundertachtzehn Welten stehen alle Variationen der Schöpfung unter der Herrschaft der Zeit (kāla). Diese Zeit beaufsichtigt der Herr des Todes (Yama). Wenn es eine Zeit gibt, gibt es Tod. Wenn es eine Zeit gibt, gibt es Geburt. Wenn es das Reich der Zeit gibt, gibt es alles: Schmerz, Vergnügen, Traurigkeit, Glücklichsein, Freude, Sexualität und keine Sexualität, Bindungslosigkeit und Bindung. In dieser Welt beherrscht dich die Zeit in dem Ausmaß deiner eigenen Fähigkeit.

Bisweilen geschieht es irgendwo und irgendwann, dass sich die Gnade des Herrn Śiva über eine Person ergießt. Wenn sich diese Gnade Śivas über dich ergießt oder wenn die pulsierende Kraft der Lehren deines Meisters dein Gottesbewusstsein erzittern lassen, wirst du zu verstehen beginnen, dass es keine Zeit gibt. Dann wirst du erkennen, dass Śiva dir einen Streich spielt. Ansonsten wirst du nicht bemerken, dass du einem Fußball gleichst, mit dem in dieser Welt gespielt wird. Ein Unwissender bildet sich ein, er sei der Spieler. Er denkt, er sei derjenige, der spielt. Diese Vorstellung ist ein Irrtum! Er ist nicht derjenige, der spielt, sondern derjenige, mit dem gespielt wird.
Wenn du erkennst, dass es sich um einen Streich handelt, gibt es nichts für dich zu tun. Wie aber erkennst du, dass es ein Trick ist? Die Gnade des Herrn Śiva wird es dich erkennen lassen. Du wirst es durch die Gnade des Meisters und die Gnade der Schriften (śāstras) erkennen.
Wenn du meinst, durch Vorträge und durch Lesen herauszufinden, dass es sich um einen Streich handelt, wende ich ein, dass dies nicht wahres Wissen ist. Es ist angeeignetes Wissen. Wahres Wissen bedeutet, wenn du dich selbst genau kennst.

14. Diese beiden Zyklen, Gefangenschaft und Befreiung, sind das Spiel des Herrn Śiva und nichts anderes. Sie sind nicht von Ihm getrennt, da sich keinerlei differenzierte Ebenen ergeben haben. In Wirklichkeit ist nichts mit dem Herrn Śiva geschehen.


Der Zyklus der Gefangenschaft ist der Zyklus des Nichtwissens. Wenn du nicht weißt, was du tust, dann weißt du nicht, wo du angesiedelt bist. Dies ist der Zyklus der Gefangenschaft. Was ist der Zyklus des Wissens? Er ist Befreiung! Was bedeutet Befreiung? Befreiung tritt ein, wenn du verstehst, dass es nur ein Trick ist, nur das Spiel Śivas und nichts anderes. An diesem Punkt begreifst du, dass nichts geschehen ist, nichts verloren und nichts gewonnen.
Diese beiden Zyklen von Gefangenschaft und Befreiung sind also nicht von Śiva getrennt. Warum? Weil alles gleichbleibend ist. Es handelt sich nur um eine Illusion, dass du unwissend bist und ein anderer erhöht ist. Es fragt sich, wessen Illusion dies ist. Ist sie deine oder die des Herrn Śiva? Es ist deine Täuschung. Warum? Wäre es nicht deine Täuschung, könntest du nicht befreit werden. Deine eigene Täuschung hat dich unwissend gemacht. Du hältst dich selbst zum Narren. Sobald diese höchste Kraft in dich eintritt, wird sie die Unwissenheit in Stücke zerschmettern. Dazu bedarf es keiner fremden Hilfe. Du hast dich selbst versklavt und kannst dich selbst befreien und ein König werden.
Du musst verstehen, dass Śiva in Wirklichkeit unangetastet blieb. Er ist niemals unwissend. Er ist niemals erhoben. Von welchem Punkt aus sollte dies geschehen? War er vorher nicht erhoben? Warum benutzen wir eigentlich dieses Wort „Erhebung“? Erhebung betrifft jene, die gesunken sind oder im Begriff stehen zu sinken. Wenn Er niemals gesunken ist, und du bist eins mit Ihm, warum spricht man davon, sich selbst zu erheben? Du bist bereits erhaben. Du bist göttlich.
Dies ist kaschmirischer Shivaismus. Viele Menschen missverstehen diese Theorie des Shivaismus. Zuerst musst du diese Theorie verstehen lernen. Dann wirst du beginnen, der Herr Śiva zu werden. Nach der Theorie des Shivaismus bist du Śiva und wirst schließlich zu der Einsicht gelangen, dass du Śiva bist. Und doch bist du nicht Śiva im eigentlichen Sinne, da du diesen Zustand nicht erreicht hast.
Auch wenn du noch nicht wirklich erkannt hast, dass du Śiva bist, ist es kein Fehler zu denken, dass du Śiva bist. Du solltest diesen Gedanken beibehalten. Der Gedanke, dass du Śiva bist, sollte dich beflügeln, prahle aber nicht damit. Erzählst du jemandem, dass du Śiva bist, bedeutet dies, dass du nicht Śiva bist. Du musst tatsächlich begreifen, dass, wenn du der Herr Śiva bist, diese gesamte Schöpfung ein Scherz ist, der Ausdruck deines Spiels.
Man mag fragen: „Wie weiß man, ob man sich nicht zum Narren hält, wenn man glaubt, Śiva zu sein, oder ob man tatsächlich Śiva ist? Wie erkennt man es?“ Man wird sich selbst erkennen, weil man fortwährend glückselig sein wird. Befindet man sich in diesem Zustand und es geschieht etwas Negatives, wird man sich nicht sorgen. Widerfährt einem etwas Gutes, wird man nicht in Begeisterung ausbrechen. Durchlebt man Schmerz, bleibt man ruhig.

Du musst dich in diesen Zustand versetzen. Gelingt es dir nicht und du prahlst: „Ich bin der Herr Śiva, ich bin der Herr Śiva“, wirst du geohrfeigt werden, um dir zu verstehen zu geben, dass du nicht der Herr Śiva bist.
Wirklich zu wissen, wer du bist, stellt ein großes Problem dar. Du musst selbst herausfinden, wo du stehst. Es geschieht durch die Gnade Śivas oder durch die Gnade eines Meisters oder durch die Gnade der śāstras.

15. So hat der Herr, Bhairava, das Wesen allen Seins, in Seiner eigenen Weise, in Seiner eigenen Natur, die drei großen Energien gehalten: Die Energie des Willens (icchā-śakti), die Energie des Handelns (kriyā-śakti) und die Energie des Wissens (jñāna-śakti). Diese drei Energien sind wie der Dreizack,7 der dreifache Lotos. Und auf diesem Lotos erhebt sich der Herr Bhairava, die Natur des gesamten Universums der hundertachtzehn Welten.


Die Natur des Universums ist die Existenz des Herrn Śiva. Die Existenz Śivas ist natürlich die Natur eines jeden. Śiva findet sich in dem Felsen. Śiva findet sich überall. Śiva findet sich sogar dort, wo Śiva nicht ist. Selbst dort ist Er nicht abwesend, Er existiert überall.
Dort weilt Er, allein in Seinem Königreich. Es gibt niemanden anderen dort.

16. Ich, Abhinavagupta, habe diese Verse für einige meiner Schüler, die kaum über intellektuelles Wissen verfügen, geschrieben und offenbart. Für diese Schüler, die mir zutiefst ergeben sind, habe ich diese fünfzehn Verse verfasst, nur um sie augenblicklich zu erheben.